Europa treibt den Ausstieg aus dem Flüchtlingsschutz voran

Die EU schottet sich ab: Slowenische Soldaten errichten im November 2015 an der Grenze zu Kroatien eine Stacheldrahtbarriere, um Geflüchtete aufzuhalten. Foto: imago/Pixell
Europa treibt den Ausstieg aus dem Flüchtlingsschutz voran
70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention
Günter Burkhardt

Seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten darüber, wie die europäische Flüchtlingspolitik aus­sehen soll. Doch faktisch herrschen an den Grenzen Europas jetzt schon Bedingungen vor, die den Zugang zum Recht auf Asyl massiv erschweren. Es ist unfassbar, was im 70. Jahr der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in Europa geschieht: Ein ganzer Kontinent stiehlt sich aus der Verantwortung für Menschen auf der Flucht und versperrt ihnen das Recht darauf, in Europa Schutz zu suchen.

Vor nunmehr 70 Jahren, genauer am 28. Juli 1951, wurde das "Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" – wie der eigentliche Titel der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) lautet – verabschiedet. Es war ein zivilisatorischer Meilenstein nach dem Schrecken und Terror des Zweiten Weltkriegs, dass Menschen individuelle Rechte haben, die einklagbar sind und dass das Handeln der Behörden nicht willkürlich nach Gutsherrenart erfolgen darf. Geflüchtete haben ein Anrecht darauf, einen Asylantrag zu stellen, in einem fairen Verfahren angehört zu werden. Und der Zugang zum Rechtsstaat ist fundamental für eine Demokratie und für das Zusammenleben in Europa. Werte, auf die die EU besonders stolz ist, die sie aber täglich an den Außengrenzen über Bord wirft.

Unterzeichnung GFK
Das "Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" - so lautete der eigentliche Titel der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet. Foto: Arni/UN Archives

Denn die Realität im Europa des 21. Jahrhunderts ist eine andere: Die Bilder von der bosnisch-kroatischen Grenze – einer EU-Außengrenze – zeigen Schutzsuchende im Schnee, in den Wäldern, ungeschützt vor dem bosnischen Winter und ohne winter­feste Unterbringung. Die meisten Geflüchteten waren schon in der EU gewesen. Zu Tausenden hat die kroa­tische Grenzpolizei sie mit Gewalt zurück über die Grenze nach Bosnien geprügelt. Seit Jahren sind an der bosnisch-kroatischen Grenze Push-Backs an der Tagesordnung, die mit äußerster Brutalität durchgeführt werden und gegen internationales und europäisches Recht verstoßen.

"Hilfe vor Ort" bedeutet "bleibt wo Ihr seid"

Die EU hat die völkerrechtliche Pflicht, diesen Menschen den Zugang zum Asylverfahren zu ermöglichen. Doch bislang hat sie sich mit Geld für die "Hilfe vor Ort" aus der Verantwortung für die Geflüchteten freizukaufen versucht. Denn "Hilfe vor Ort" bedeutet "bleibt wo ihr seid" – festgesetzt vor und an den EU-Außengrenzen. Jetzt wälzt die EU die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf Bosnien ab, einen fragilen Staat, der nach dem fürchterlichen Krieg in den 1990er Jahren durch einen Hohen Repräsentan­ten der Vereinten Nationen überwacht wird. Jetzt wälzt die EU die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf Bosnien ab – und zwar für die Menschen, denen die EU durch Push-Backs der kroatischen Grenzpolizei rechts­widrig das Recht auf Asyl verwehrt.

In Griechenland, in der Ägäis, schleppt die griechische Regierung Flüchtlingsboote mit Gewalt in internationale Gewässer zurück, setzt Flüchtlinge aus, treibt sie Richtung Türkei. Sogar Frontex-Boote stehen im Verdacht, sich an den Aktionen zu beteiligen. An den Landgrenzen werden zur Abwehr Geflüchteter Zäune hochgerüstet und Hubschrauber eingesetzt. Es wird mit Blendmunition, ja mit scharfer Muni­tion, auf Flüchtlinge geschossen.

"Ein ganzer Kontinent stiehlt sich aus der Verantwortung für Menschen auf der Flucht"

Im Mittelmeer sieht die Situation nicht besser aus. Europäische Grenzschützer überwachen die Schiffsbewegungen im Mittelmeer und nutzen die so ge­won­nenen Informationen, um Geflüchtete durch illegale Push-backs zurück in libysche Gewässer zu treiben, wie Tagesschau und andere Medien berichten. Die Drecksarbeit, im Mittelmeer Schutzsuchende aufzugreifen und sie Richtung Libyen zurückzuschleppen, wo ihnen schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen, wird der sogenannten libyschen Küsten­wache überlassen. Push-Backs, Gewalt, Zäune: Das ist die Realität an den EU-Außengrenzen – mit dem Wissen der EU und in ihrem Namen, denn Europa liefert das Geld, um all das zu ermög­lichen. Flüchtlingsschutz sieht anders aus.

Zäune überall: Ein junges Mädchen läuft 2017 durch das Aufnahmelager Vathy auf der griechischen Insel Samos. Foto: UNHCR/Yorgos Kyvernitis

Was illegal und menschenrechtswidrig ist, soll jetzt ein legales Mäntelchen bekommen. Die EU arbeitet daran, die jetzt schon stattfindende Entrechtung Geflüchteter in Gesetze zu gießen. Am 23. September 2020 hat die Europäische Kommission den sogenannten »New Pact on Migration and Asylum« vorgelegt – ein Gesetzespaket, das über die Frage entscheidet, ob und wie Geflüchtete künftig in Europa Schutz finden können. Mit dem Vorhaben kommt die Kommission all jenen Mitgliedstaaten entgegen, die am liebsten gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Aber eben auch jenen, für die Menschenrechte und der Flüchtlingsschutz nur noch ein Lippenbekenntnis sind und die stillschweigend die Abriegelung Europas mitvorantreiben. Diese steckt in einem kaum durchschaubaren Paragraphen­dschungel aus Hunderten von Seiten und hinter schwer verständlichen Begriffen. Das Recht auf Asyl wird zwar nicht abgeschafft – aber mit einem Sperrgitter versehen, sodass niemand es mehr in Anspruch nehmen kann.

"Wird der 'New Pact' Realität, wird fundamentales Flüchtlingsrecht schlichtweg umgangen"

Ein Beispiel: Geflüchtete, die Europa erreichen, werden künftig an der Grenze bis zu sechs Monate in Lagern fest­gehalten. Sie gelten in dieser Zeit nicht als eingereist. Fiktiv tut man so, als hätten sie nie europäischen Boden betreten, obwohl sie auf europäischem Boden in Lagern festsitzen. Das Wort heißt "Nichteinreisefiktion" – und ist rechtlich absolut fragwürdig. Wieviel Rechte wird Europa Schutzsuchenden künftig überhaupt noch gewähren, wenn sie nicht einmal als eingereist wahrgenommen werden?

In den Insellagern, wie wir sie seit Jahren in Griechenland kennen, soll es beschleunigte Grenzverfahren geben, in denen Geflüchtete jedoch nicht etwa nach ihren Fluchtgründen gefragt werden. Stattdessen soll festgestellt werden, ob sie womöglich durch einen Staat durchgereist sind, in den man sie zurückschicken kann. Die Kriterien für solche sogenannten "sicheren Drittstaaten" will die Kommission senken. Bereits die Durchreise soll genügen, um dorthin abgeschoben zu werden. Die EU entledigt sich so der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz. Die Menschen werden durchgereicht und immer näher an Kriegs- und Krisengebiete zurückgeschickt. Eine reelle Chance auf Schutz wird ihnen verwehrt.

Die EU untergräbt damit einen der Pfeiler des Flüchtlingsschutzes, nämlich das Recht auf Schutz vor Zurückweisung, das in Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verankert ist. An der Grenze muss Schutzsuchenden der Zugang zu diesem Recht zwingend offengehalten werden. Wird der "New Pact" Realität, wird fundamentales Flüchtlingsrecht schlichtweg umgangen. Auf dem Papier existiert es zwar noch, in der Realität wird es Schutzsuchenden nicht mehr von Nutzen sein.

Verzweiflung: Eine Familie sucht nach dem verheerenden Brand im Lager Moria im September 2020 Schutz am Straßenrand. Foto: UNHCR

Das berüchtigte und inzwischen abgebrannte Insellager Moria und jetzt das Nachfolgelager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos sind ein Sinnbild des Verrats an allem, wofür ein Europa der Menschenrechte steht. Wenn Geflüchtete zu Tausenden in abgeschlossenen Insellagern weggesperrt sind, gibt es keinen Zugang für Anwält*innen, jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht den Namen des Betroffenen kennen. Wie soll unter menschenunwürdigen Zuständen ein Zugang zu einem Rechtssystem ermöglicht werden, wenn es dort weder Anwält*innen noch Be­ratung noch eine ausgebaute Gerichtsbarkeit gibt?

Mit dem "New Pact" wird Moria zum Programm. Geeinigt haben sich die EU-Staaten zwar noch nicht, faktisch nimmt der "New Pact" aber immer mehr Form an. Bis September 2021 soll mit EU-Geldern auf der Insel Lesbos ein neues, geschlossenes Lager entstehen, das hat die EU-Kommission mit den griechischen Behörden ver­einbart. Doch diesmal wird die Entrechtung Schutzsuchender hinter Zäunen und Lagermauern für die europäische Öffentlichkeit kaum sichtbar sein, der Protest dagegen soll verstummen. Das wird es künftig sehr schwer machen, den schändlichen Pakt der Entrechtung anzuprangern. Seit Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention waren der Flüchtlingsschutz und das Recht auf Asyl in Europa noch nie so sehr in Gefahr wie heute.

"An Europas Außengrenzen entscheidet sich, ob Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch in Zukunft die Grundlage statttlichen Handelns sind."

Die Interkulturelle Woche und der Tag des Flüchtlings finden in zeitlicher Nähe zur Wahl des Deutschen Bundestages statt.  Deutschland und die Europäische Union stehen vor wegweisenden Entscheidungen. Die drohende Klimakatastrophe, die galoppierende Pandemie und die Folgen von Krieg, Terror und Verfolgung sind nationalstaatlich nicht zu lösen. Unsere Gesellschaft basiert auf Offenheit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.

Die Staaten der EU verabschieden sich gerade von der uneingeschränkten Geltung der Menschenrechte. Einige EU-Staaten wollen überhaupt keine Flüchtlinge schützen, andere streben nur die Aufnahme von kleinen Kontingenten an – niemand verteidigt mit Entschiedenheit das individuelle Recht auf Asyl. Wir halten demgegenüber fest: An Europas Grenzen entscheidet sich, ob Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch in Zukunft die Grundlage staatlichen Handelns sind. Schutzsuchende dürfen an Europas Grenzen nicht zurückgewiesen werden. Der Zugang zum Recht auf Asyl muss gewährleistet sein.

Es ist ein Irrtum, zu denken, dass man gegenüber Flüchtlingen die Grenzen schließt, Stimmung schürt und eine Gesetzesverschärfung nach der anderen auf den Weg bringt, und gleichzeitig Hochqualifizierte mit offenen Armen empfangen kann. Rassistische Haltungen orientieren sich nicht am Aufenthaltsstatus, sie treffen alle in unserem Land, die als fremd markiert werden. Das verbal verbreitete Gift, die Ver­rohung der Sprache, die Missachtung von Grund- und Menschenrechten, Alltagsrassismus und rassistische Gewalt entziehen unserer Gesellschaft die Grundlage.

Deutschland muss zum Leuchtturm der Geltung der Menschenrechte in Europa werden. Und genau deswegen sind die Interkulturelle Woche und der Tag des Flüchtlings so wichtig, damit deutlich wird: Der Schutz von Flücht­lingen ist ein elementares unveräußer­liches Menschenrecht. Menschenrechte zählen.

Dieser Text ist erschienen im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2021, das Sie hier bestellen können.

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Günter Burkhardt
Foto: ÖVA/Nils Bornemann

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer und Mitbegründer von PRO ASYL. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich seit mehr als 30 Jahren für die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden ein. Burkhardt ist außerdem Mitglied im Ökumenischen Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche.

Kontakt: presse@proasyl.de

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