Das Zusammenleben in Vielfalt vor Ort gestalten!

Deutsche Städte und Gemeinden sind vielfältig.
Das Zusammenleben in Vielfalt vor Ort gestalten!
Was deutsche Kommunen von der englischen Stadt Leicester lernen können
Kai Unzicker

Viermal im Jahr treffen sich im Rathaus der englischen Stadt Leicester über 40 Vertreter*innen aus unterschiedlichen religiösen Gemeinden – Christen, Muslime, Hindus, Sikhs oder auch Baha’i. Der Bürgermeister der ältesten Stadt in England, Sir Peter Soulsby, hat den interreligiösen Dialog und das Zusammenleben in einer vielfältigen Stadt zur Chefsache gemacht. Dafür gibt es gute Gründe. In Leicester sind die Minderheiten in der Mehrheit: Weniger als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner zählen zu den in offiziellen Statistiken so genannten White British; fast 37 Prozent der Bürger*innen sind im Ausland geboren.

An Diwali, dem Lichterfest der Hindus, ist die ganze Stadt mit bunten Lichtern geschmückt. Genauso wie Weihnachten und Ostern ist Diwali inzwischen zu einem festen Bestandteil des alljährlichen städtischen Kalenders geworden. Ganz selbstverständlich feiern alle in Leicester mit, die Stadt organisiert die offizielle Kundgebung. Nicht nur deshalb wurde Leicester in den letzten Jahren mehrfach als besonderes Beispiel für das gelungene Zusammenleben in Vielfalt im Vereinigten Königreich ausgezeichnet.

Auch Deutschland ist längst ein Einwanderungsland

Ein solches Bekenntnis zur Vielfalt findet man in Deutschland eher selten, auch wenn inzwischen weithin anerkannt wird, dass wir in einem Einwanderungsland leben. Heute hat etwa jeder vierte Einwohner einen so genannten Migrationshintergrund; mehr als die Hälfte davon mit deutschem Pass. Schaut man aber etwas genauer hin, so erkennt man deutliche Unterschiede: In allen ostdeutschen Bundesländern liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund teilweise deutlich unter zehn Prozent, während er in Westdeutschland teilweise über 30 Prozent erreicht. Vergleicht man die Anteile in den Städten und Gemeinden, dann werden die Unterschiede noch deutlicher: Hierbei zeigt sich, dass vor allem in Großstädten mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben als in Landgemeinden oder Kleinstädten. In Städten wie Offenbach oder Frankfurt am Main ähnelt die Bevölkerungszusammensetzung schon längst der Situation in Leicester. Auch hier stellen die Angehörigen der jeweiligen Minderheiten zusammen etwa die Hälfte der Bevölkerung.

Städte und Gemeinden haben unterschiedliche Ausgangspositionen

Es gibt jedoch deutliche Unterschiede in der Zusammensetzung der Bevölkerung und beim Umgang mit einwanderungsbedingter Vielfalt in den Städten und Gemeinden in Deutschland. Es gibt Städte, die stark von der Arbeitsmigration der 1960er Jahre geprägt sind. Vielfalt ist hier zwar nichts Neues und es gibt bereits langjährige Erfahrungen und auch Erfolge mit Integration vorzuweisen, aber häufig sind die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in diesen alten Industriezentren problematisch. Andere Städte stehen auf den ersten Blick besser da: Metropolen wie Hamburg, Frankfurt am Main oder München sind heute schon enorm divers und ziehen mit hoher Lebensqualität, interessanten Jobs, attraktiven Bildungsangeboten und einer lebendigen Kulturszene Einwanderung aus dem Ausland in hohem Maße an. Dieser wirtschaftliche Erfolg hat aber auch seine Schattenseiten. Beispielsweise sorgen hohe Mieten für einen enormen Konkurrenzkampf bei der Wohnungssuche.

Andere Städte und Gemeinden konnten indes in den vergangenen Jahrzehnten weniger Erfahrungen mit Migration und Integration sammeln. Insbesondere Klein- und Mittelstädte, gerade auch in Ostdeutschland, setzen sich verstärkt erst seit dem Zuzug von Geflüchteten ab 2015 intensiver mit diesen Themen auseinander. Sie holen nun im Eiltempo die Erfahrungen nach, die andernorts über einen Zeitraum von 40 Jahren gemacht wurden. Das bleibt nicht spannungsfrei.

Willkommenskultur ist auch ein Standortvorteil

Klar ist aber auch: Deutschland ist dringend auf Einwanderung angewiesen. Allein um den durch den demografischen Wandel bedingten Fachkräftemangel auszugleichen, rechnen Expert*innen mit einer Nettozuwanderung von mindestens 260.000 Personen pro Jahr bis 2060. Diesen Prozess müssen Politik und Gesellschaft aktiv gestalten, sonst wird Integration nicht gelingen. Dies passiert an erster Stelle unmittelbar vor Ort. Dafür ist entscheidend, sich nicht allein auf die anstrengenden Aspekte von Integration zu konzentrieren. Zu häufig wird noch in den Rathäusern und Verwaltungen Integrationsarbeit vor allem als Belastung diskutiert, und zu wenig erkennt man, dass eine attraktive und funktionierende Willkommenskultur auch ein Standortvorteil sein kann.

Das Zusammenleben in Vielfalt muss vor Ort gestaltet werden

Nichts entzweit aber im Augenblick so sehr die Gesellschaft, wie die Debatte um Einwanderung und kulturelle Vielfalt. Ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt, der offen für Vielfalt ist, der also nicht zwischen einem "Wir" und „die Anderen“ unterscheidet, ist eine wichtige Voraussetzung für gelingendes Zusammenleben. Dafür muss das Miteinander vor Ort aktiv gestaltet werden. Es braucht sichtbare Vorbilder, klare Botschaften, engagierte Kümmerer und gute Rahmenbedingungen. Und es braucht Räume und Gelegenheiten, damit die unterschiedlichen Menschen, die im Gemeinwesen zusammenleben, sich begegnen und austauschen können.

Produktive Orte für das Zusammenleben in Vielfalt: Stadtteilzentren, Bibliotheken und Museen

Viele solcher Orte sind im öffentlichen Raum in den letzten Jahren verschwunden. Sie gilt es wieder stärker mit Leben zu füllen, damit in ihnen Vergemeinschaftung geschehen kann. Erfolg bei Integration und Zusammenleben entsteht nämlich dann, wenn die Menschen in einem Gemeinwesen selbst die Gelegenheit haben, mitzuwirken, sich einzubringen und gemeinsam das Miteinander zu gestalten. Oder anders formuliert: Wenn sie Selbstwirksamkeit erleben, statt Veränderungen als bloßes Schicksal zu erfahren, dem man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Deshalb kommt es darauf an, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Mitgestaltung ermöglichen. Offene Stadtteilbüros, Bibliotheken, aber auch Museen und öffentliche Plätze können solche produktiven Orte werden, an denen im Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Akteure neue gemeinsame Projekte entstehen.

Von erfolgreichen Beispielen lernen

Viele Kommunen in Deutschland sind bereits auf einem guten Weg, aber längst nicht alle, und angekommen am Ziel – also, dass Vielfalt gelebte Normalität und Integration erfolgreiche Routine ist – ist wohl noch kaum eine Stadt oder Gemeinde hierzulande. Lohnenswert ist daher der Blick auf Beispiele aus dem In- und Ausland, die zeigen, worauf es ankommt. Auch bei diesen ist nicht alles perfekt, aber interessante Ansätze finden sich, wenn man danach sucht. Im Rahmen des Projektes Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten hat die Bertelsmann Stiftung solche Beispiele näher untersucht; in Leicester, aber auch in Barcelona, Malmö, Mechelen, Toronto oder Nashville. Hieraus lassen sich einige grundlegende Strategien ableiten, mit deren Hilfe das Zusammenleben vor Ort in der Einwanderungsgesellschaft gelingt:

•    Ein klares, öffentliches Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt in der Stadt
•    Leadership für Vielfalt
•    Starke, sichtbare Vorbilder zeigen
•    Stärkere Vernetzung von Integration und Vielfalt mit anderen Handlungsfeldern
•    Kulturelle Besonderheiten anerkennen und respektieren
•    Begegnungsräume schaffen ("produktive Orte")
•    Beteiligung ermöglichen und aktive Mitgestaltung fördern
•    Teilhabegerechtigkeit verwirklichen – Diskriminierung verhindern
•    Sicherheit(sgefühl) für alle im öffentlichen Raum herstellen
•    Monitoring für interkulturelles Zusammenleben und Integrationsmaßnahmen einrichten

Es gibt also viele gute Ideen und erfolgversprechende Maßnahmen, aber – das zeigt auch die Erfahrung aus Leicester – nur, wenn Personen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, sich einzusetzen und darum zu kümmern, dass etwas passiert, führen die guten Ideen auch zu einem gelingenden Zusammenleben in der Praxis.

Weitere Informationen

Kai Unzicker
Foto: ÖVA / Nils Bornemann

Dr. Kai Unzicker ist Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Er beschäftigt sich in seiner Arbeit mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer heterogenen Gesellschaft. Unter www.gesellschaftlicher-zusammenhalt.de gibt es ausführliche Informationen.

Kontakt: kai.unzicker@bertelsmann-stiftung.de