Vor Flüchtlingsgipfel: Organisationen fordern schnelle Hilfe

Vor Flüchtlingsgipfel: Organisationen fordern schnelle Hilfe

Quelle: PRO ASYL / Diakonie / Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege / ver.di

Anlässlich des heutigen Flüchtlingsgipfels, bei dem Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Vertretern der Zivilgesellschaft sprechen wird, äußern sich PRO ASYL und weitere Organisationen zu der Thematik. Sie kritisieren die Zustände in den Lagern für Geflüchtete vor allem an der bosnisch-kroatischen Grenze und fordern, den Schutzsuchenden dort umgehend zu helfen sowie die Praxis der Pushbacks unverzüglich zu beenden.

PRO ASYL fordert die Evakuierung und Aufnahme aus den Elendslagern vor und an den EU-Grenzen. "Deutschland muss in der EU wieder der Motor zur Verteidigung der Menschenrechte von Schutzsuchenden werden. Die systematischen Pushbacks an der EU-Grenze müssen gestoppt werden. Deutschland hat Platz, es gibt weder vor Europas Grenze in Bosnien noch auf den griechischen Inseln eine Perspektive auf Schutz und Asyl. Die Bundesregierung muss sich ihrer humanitären und menschenrechtlichen Verantwortung stellen. Wir fordern Initiativen zur sofortigen Beendigung der illegalen Pushbacks durch Kroatien und Griechenland an der EU- Außengrenze", so Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.

"Die stillschweigende Tolerierung dieses Menschenrechtsbruchs muss aufhören."

Die Push-Backs geschehen mit Billigung und Unterstützung der EU und der Bundesregierung. Ungeachtet der gut dokumentierten, systematischen Menschenrechtsverletzungen wird Kroatien für den Grenzschutz allein seit Dezember 2018 mit über 18 Mio. Euro von der EU unterstützt. Vom deutschen Bundesinnenministerium erhielt die kroatische Grenzpolizei 2020 zusätzlich Wärmebildkameras und Fahrzeuge. "Die stillschweigende Tolerierung dieses Menschenrechtsbruchs muss aufhören", mahnte Burkhardt.

Es ist deutlich, dass in Deutschland erhebliche Aufnahmekapazitäten frei sind. PRO ASYL fordert die Bundesregierung auf, angesichts steigender Flüchtlingszahlen auf mittlerweile über 80 Millionen Menschen weltweit, diese Kapazitäten auch zu nutzen. Die Zahl der grenzüberschreitenden Asylerstanträge lag im Jahr 2020 bei 76.061 und damit um 31,5 Prozent niedriger als im Vorjahr (Quelle: BMI). Über 220 Kommunen und mehrere Bundesländer haben in den vergangenen Monaten die Aufnahme von Schutzsuchenden zugesagt – ohne dass entsprechende Handlungen auf Bundesebene folgten.

"Push-Backs sind an der Tagesordnung."

Die geringen Zugangszahlen nach Deutschland sind eine Folge der rigorosen Grenzabriegelung Europas. Die griechisch-türkische Landgrenze, die ungarische und die kroatische EU-Außengrenzen sind systematisch abgeriegelt. In ähnlicher Weise wird die Seegrenze von Griechenland zur Türkei abgeriegelt, auch hier sinken die Zugangszahlen dramatisch. Kamen 2019 noch 60.000 Schutzsuchende mit Booten an, so waren es 2020 nur noch 9.687, die Gesamtzahl der Ankünfte in Griechenland (Land und See) sank von 75.000 in 2019 auf 15.533 in 2020.

Die meisten der in Bosnien-Herzegowina gestrandeten Schutzsuchenden befanden sich bereits in der EU, sie wurden allerdings von kroatischen Grenzpolizist*innen nach Bosnien zurückgeprügelt. Seit Jahren sind an der bosnisch-kroatischen Grenze Push-Backs, die mit äußerster Brutalität durchgeführt werden und gegen internationales und europäisches Recht verstoßen, an der Tagesordnung.

"Sich abzuschotten und Menschen schutzlos sich selbst zu überlassen, entspricht nicht unseren Werten."

Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, sagt:

"Für Schutzsuchende ist die Situation an vielen europäischen Außengrenzen lebensbedrohlich, besonders in diesen Wintermonaten an der bosnisch-kroatischen Grenze. Menschen leben unter unzumutbaren Bedingungen in Wäldern und Industriebrachen und versuchen immer wieder, in die EU zu gelangen, um einen Asylantrag zu stellen. Die Brutalität, mit der die kroatische Grenzpolizei gegen Schutzsuchende - darunter viele Familien mit Kindern, unbegleitete Minderjährige und Kranke - vorgeht, ist nicht hinnehmbar. An diesen Zustand dürfen wir uns ganz und gar nicht gewöhnen.

Sich abzuschotten und Menschen schutzlos sich selbst zu überlassen, entspricht nicht unseren Werten. Die Zurückschiebungen verstoßen klar gegen europäisches Recht, das die Prüfung der Schutzbedürftigkeit unter menschenwürdigen Aufnahmebedingungen garantiert. Deutschland und die EU dürfen diese Rechtsverletzungen nicht länger tolerieren. Die etwa 10.000 gestrandeten Schutzsuchenden in Bosnien-Herzegowina müssen jetzt evakuiert und umverteilt werden. Deutschland kann diese Menschen aufnehmen."

"Rückschritte in der Flüchtlingspolitik."

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie zieht in seiner Funktion als Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) diese Bilanz:

"Wir sind der Kanzlerin dankbar für ihre klare Botschaft der Menschlichkeit im Sommer 2015. Sie sorgte dafür, dass Menschen in Europa Schutz finden konnten.

Unzählige freiwillig Engagierte und hauptamtliche Mitarbeitende in den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege haben gestärkt durch diese mitmenschliche Haltung mit angepackt, damit das gelingen konnte. Mehr als die Hälfte aller Geflüchteten ist inzwischen in den Arbeitsmarkt integriert, trotz aller Widrigkeiten der Flucht, traumatischen Belastungen, Trauer um Familienangehörige und des Verlusts der Heimat. Leider hat die Pandemie die gute Entwicklung der Arbeitsmarktintegration gebremst, wird sie aber langfristig nicht aufhalten. Das ist ein Erfolg, der langfristig auch Deutschland zu Gute kommt. Es zeigt: Frühzeitige Integrationsangebote und Teilhabe für alle sind ein Gewinn für die Gesellschaft.

Leider gab es auch Rückschritte in der Flüchtlingspolitik. Insbesondere die Einschränkung des Familiennachzugs und die verlängerte Wohnpflicht in der Erstaufnahme verringern die Chancen auf ein gelingendes Ankommen der geflüchteten Menschen."

"Bestehende Aufnahmestandards müssen ohne Wenn und Aber eingehalten werden."

"Die Asylrechtsreform in der EU konnte trotz aller Anstrengungen der deutschen Ratspräsidentschaft nicht nach vorne gebracht werden. Gleichzeitig blicken wir auf besorgniserregende und menschenunwürdige Zustände für Geflüchtete an Europas Außengrenzen: in Griechenland, auf den kanarischen Inseln, an der bosnisch- kroatischen Grenze. Bestehende Aufnahmestandards müssen ohne Wenn und Aber eingehalten werden. Wir unterstützen die Bundesregierung, dass das Kriterium der Ersteinreise in der EU abgeschafft wird. Asylverfahren sollten nach einer fairen Umverteilung dezentral in Europa und nicht an seinen Grenzen stattfinden."

Frank Werneke, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mahnt:

"Aus Respekt vor ihrer Menschenwürde und aus Verpflichtung für unsere demokratischen Werte, dürfen wir die menschenverachtenden Zustände nicht weiter hinnehmen. Die Bundesregierung muss daher dringend ein Sofort-Hilfsprogramm mit anderen Staaten der Europäischen Union auflegen."